Mit Erscheinen des Buches »Ein Grabmal für Boris Davidovič« wurde 1976 in Belgrad von Schriftstellerkollegen eine Hetzkampagne gegen dessen Autor Danilo Kiš in Gang gesetzt. Kiš wurde vorgeworfen, er habe sein in dokumentarischer Prosa verfaßtes Werk über den Stalinismus »abgeschrieben«. Dem Vorwurf begegnete Kiš später mit seinem Roman »Anatomiestunde«, in dem er sein Konstruktionsprinzip verteidigte, die Analyse des inkriminierten Werkes überließ er den Lesern …
25 Jahre nach der Affäre um »Ein Grabmal für Boris Davidovič« legt Katharina Wolf-Grießhaber mit »Des Iltisses Kern« eine komplexe Analyse vor.
Kiš' Werk erlaubt zwei Arten der Lektüre, eine linear-sukzessive, wonach sich das Werk als historischer Roman erweist, und eine assoziative bzw. paradigmatische, wonach unter dem historischen Roman ein zweiter, überzeitlicher Roman entsteht. Letztere Lektüre wird durch die Äquivalenzen im manifesten Text nahegelegt, die aufeinander und zugleich auf weitere Referenztexte (Literatur, Film, Geschichte) verweisen, so daß sich ein dichtes Netz semantischer Bezüge ergibt. Diese intratextuellen, intertextuellen und intermedialen Bezüge sind Gegenstand der Analyse.
Über lautliche Äquivalenzen lassen sich Zentrum als auch ein Ariadnefaden durch das Werk finden. Es ist ein gehäuteter Iltis (tvor), ein »blutiges Knäuel«, worauf sich alle Textelemente beziehen und der zugleich der Ausgangspunkt der Analyse ist. »Tvor« ist ein Homonym, das außer »Iltis« auch »Werk« bedeuten kann, und ferner die Wurzel von »tvoriti« (schöpfen) und »tvorac« (Schöpfer) ist. »Tvor« ist zugleich ein Anagramm des jiddischen »vort« (Wort). Er ist der Logos, von dem Kiš später in »Anatomiestunde« spricht, und dessen Transmutation ist die »Transmutation des Logos«. Ebenso wie der Logos in allem ist, kann auch »tvor« in allem sein. Die Vieldeutigkeit, die das Wort »tvor« in sich trägt, setzt sich in anderen Wörtern fort und macht so den gesamten Text vieldeutig.
Über eine Analyse der Äquivalenzen wird gezeigt, daß sich die Räume in »Ein Grabmal für Boris Davidovič« als Varianten einer Falle erweisen, in die der Iltis gerät. Sämtliche Räume sind in diesen einen Raum projiziert. Der Köder, der das Opfer in die Falle lockt, nimmt unterschiedliche Form an. Er kann sich in einem faulen Ei manifestieren, in einem künstlerischen Werk, in einem Künstler oder in der Idee von der Gerechtigkeit. Auf diese Weise wird implizit das Verhältnis des Künstlers zur Macht thematisiert. So ist das totalitäre Regime eine Falle, in die der Künstler geraten ist. Mit seinem Werk als Köder kann der Künstler andere Menschen in Fallen locken. Ebenso wie die vielfältigen Räume in einem Raum, der Falle, aufgehen, lassen sich auch die Gestalten in dem Werk auf eine bestimmte Gestalt, nämlich den Iltis, zurückführen.
Die Entgrenzung der Individuen äußert sich auch auf intertextueller Ebene. Am Beispiel der Namen Kostik Korčunidze und Karl Georgijevič Taube zeigt sich, daß in einer Gestalt jeweils viele andere Gestalten enthalten sind. Die Antipoden Korčunidze und Taube sind wechselseitig ineinander enthalten und gehen auf eine einzige Gestalt, eben den Iltis, zurück. Die Namen evozieren Politiker und Dichter, so daß auch hier wieder das Thema Kunst und Macht aufscheint.
Jedoch nicht nur die Namen in »Ein Grabmal für Boris Davidovič« verweisen auf Gestalten in Referenztexten, auch die Falle und ihr Inventar sind bereits in den Referenztexten enthalten. Ausführlich werden diese Bezüge zu den Referenztexten, zwischen denen sich im neuen Kontext ein Dialog entwickelt, dargestellt. Die Welt der Falle stellt sich als Vexierbild dar, das der Mensch einmal als wahr, ein anderes Mal als Täuschung erfährt. Die Gestalten sehen sich indes im Besitze der Erkenntnis und gleichen so den Gefangenen in Platons Höhle, die statt der wahren Welt nur eine Schattenwelt sehen.
Literarisierung von Dokumenten – »Fakt und Fiktion«. Kiš greift Fakten auf, modifiziert und kombiniert diese jedoch derart, daß die Geschichte verallgemeinert wird. Am Beispiel eines authentischen, von Kiš nur geringfügig veränderten Dokumentes läßt sich zeigen, wie durch diese Veränderung weitere Dokumente evoziert werden und miteinander in einen Dialog treten. In diesem Dialog findet z. B. eine Auseinandersetzung mit dem Verfahren der Montage bei Eisenstein statt. Während in den evozierten Eisensteinwerken dieses Verfahren eingesetzt wird, um die Gedanken des Zuschauers zu emotionalisieren, wird diese Montage von Kiš bloßgelegt und reflektiert.
Durch die Gegenüberstellung von Äquivalenzen, seien sie nun intratextuell, intertextuell oder intermedial, wird ein Sinn frei, der sich im Zwischenraum der Äquivalenzen wie auch im Zwischenraum der Texte befindet. Es entsteht ein impliziter Text, ein zweiter Roman.
Dieser zweite Roman ist im Gegensatz zum manifesten Text, den Kiš als »historischen Roman« bezeichnet, überzeitlichen Charakters. Während es im manifesten Text etwa nur in einem Kapitel um das Schicksal eines Künstlers geht, ist die Künstlerproblematik im impliziten Text durchgehend präsent. Thematisiert wird stets das Verhältnis zwischen Künstler und Macht, wobei dem Wort eine besondere Bedeutung zukommt. Es kann verfolgt, verbannt und verbrannt werden, es kann aber auch ködern, verfolgen und zerstören.
»Ein Grabmal für Boris Davidovič« ist ein Wortkunstwerk, in dem das Wort aufbewahrt und wiederbelebt wird. Es ist ein Denkmal für all jene, die um des Wortes willen verfolgt und deren Werke vernichtet wurden, ebenso wie es ein Mahnmal ist, das an die verführerische und zerstörerische Macht des Wortes erinnert.
Katharina Wolf-Grießhaber, Jahrgang 1955, hat an den Universitäten Heidelberg, Bochum und Bielefeld Slavistik und Osteuropäische Geschichte studiert. Sie lebt als freie Übersetzerin in Münster.